Für einen transparenten Umgang mit Demenz

In Deutschland wird laut Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft bei rund 300.00 Menschen pro Jahr eine Form von demenzieller Erkrankung diagnostiziert. Die Zahl der Neuerkrankungen übersteigt dabei jedes Jahr die Zahl der Sterbefälle um ungefähr 40.000 Patient*innen. Was es im Einzelfall bedeuten kann, mit einem an Demenz erkrankten Menschen zusammen zu leben, erzählt Waltraut Fischer aus Göttingen.

Waltraut Fischer aus Göttingen pflegt ihre an frontotemporaler Demenz erkrankte Tochter

Die zupackende Rentnerin steht stellvertretend für die vielen pflegenden Angehörigen, die sich um einen ihnen nahestehenden Menschen kümmern. Waltraut Fischer pflegt seit über zehn Jahren ihre an frontotemporaler Demenz erkrankte Tochter. Wer glaubt, Demenz beträfe nur Menschen im fortgeschrittenen Alter, der irrt. Bei Anja wurde die Krankheit schon mit Anfang vierzig diagnostiziert. Seither ist sie neben medizinischer Versorgung auf die ständige pflegerische Hilfe ihrer Mutter angewiesen. Waltraut Fischer leistet seitdem eine Rund-um-die-Uhr Betreuung für ihre Tochter; sieben Tage die Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Auf Unterstützung durch Fremde, z.B. ausgebildete Pflegekräfte oder medizinisches Fachpersonal, kann sie aufgrund der spezifischen Schwere der Erkrankung kaum bauen.

Keine Veränderung der Norm

Der Tagesablauf der beiden Fischers ist streng geregelt. Für Anja stellen Abweichungen von gewohnten Abläufen grundsätzlich ein großes Problem dar; fremde Menschen irritieren und verängstigen sie. Ihre innere Uhr verlangt die genaue Einhaltung routinierter Handlungen, wie Aufstehen, die Einnahme der Mahlzeiten, Körperpflege und ihre Freizeitaktivitäten. Jede Veränderung der Norm führt krankheitsbedingt zu immensen Verlustängsten und lautstarken Panikattacken, von denen sie sich nur schwerlich wieder erholt. Für Waltraut Fischer bedeutete diese Tatsache, den Pflegealltag und damit auch ihr eigenes Leben minutiös an die Gewohnheiten und Bedürfnisse ihrer Tochter anpassen zu müssen. Keine leichte Aufgabe für die lebensfrohe und agile Mutter.

Rhythmus und Kontinuität sind neben viel Fürsorge und Liebe für ihre Tochter die bestimmenden Faktoren in Waltraut Fischers Leben geworden. Anjas Erkrankung und Pflegebedürftigkeit lassen ihr kaum Zeit für andere Aufgaben oder die eigene Freizeitgestaltung. Trotzdem schafft sich Waltraut Fischer immer wieder wenige wertvolle Freiräume, um auch mal an sich zu denken: „Man muss zwischendurch auch mal alle Fünfe gerade sein lassen. Fensterputzen zum Beispiel ist dann plötzlich nicht das Wichtigste was gerade erledigt werden muss, das kann auch mal warten“, weiß sie augenzwinkernd zu berichten.

Mein Verzicht im Privatleben ist unheimlich groß. In meiner wenigen Freizeit lebe ich mittlerweile auf meinen eigenen, kleinen Inseln, auf denen ich auch mal ‚Ich-sein‘ kann.“

Waltraut Fischers Weg zu dieser Erkenntnis war, wie für viele andere pflegende Angehörige, die ähnliche Aufgaben in der ständigen Betreuung und Pflege von dementen Angehörigen leisten, schwierig aber notwendig. „Anjas Demenz hat ganz sicher auch mein Bewusstsein verändert – aber ich bin ein Mensch, keine Maschine. Ich kann und muss auch mal ‚Nein‘ sagen und es auch dürfen. Wenn ich für Anja ständig da sein will, dann muss ich mich auch um mich kümmern. Aber das war für mich auch ein Lernprozess.“ Ein straffes Zeitmanagement stand zu Beginn ihrer Pflegetätigkeit an erster Stelle. „Struktur ist gut, Planung ist wichtig. Pflege ist wie Berufsleben, ich musste mich allerdings an eine ganz andere Zeitstruktur gewöhnen, das war nicht einfach.“

Pflegenden Angehörigen rät sie auf jeden Fall dazu, möglichst einen Pflegekurs zu absolvieren. Man müsse sich schließlich fachgerecht an die neuen Aufgaben heranführen lassen, um verantwortungsbewusst und richtig zu pflegen. Außerdem sei es für sie wichtig, immer am Ball zu bleiben, sich zu informieren und Meinungen und Erfahrungen mit anderen auszutauschen. Psychosoziale Entlastung durch Gespräche mit pflegenden Angehörigen hilft Ihr, über schwierige Phasen hinwegzukommen. Diese Hilfe zur Selbsthilfe fand Waltraut Fischer z.B. in der Uniklinik Göttingen, in Gesprächskreisen mit anderen Betroffenen oder bei der Vereinigung der ‚Landfrauen‘.

Transparenz im Umgang mit Demenz ist wichtig

Ihre wichtigste Erkenntnis für das Zusammenleben mit einer demenziell erkrankten Person lautet: „Ich verheimliche die Demenzerkrankung meiner Tochter nicht und ich rate allen Betroffenen und Ratsuchenden zu Transparenz im Umgang mit anderen Menschen und sich selbst.“ Waltraut Fischers offener Umgang mit dem Thema habe ihr im Laufe der Jahre geholfen, die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Demenz in ihrem Umfeld zu verbessern, Freunde, Bekannte und Nachbarn im Umgang mit ihr und Anja zu sensibilisieren und die Bedeutung ihrer schweren aber liebevollen Pflege für ihre Tochter anzuerkennen.

Für ihr unermüdliches Engagement wurde Waltraut Fischer im Mai 2019 im Rahmen der Woche der pflegenden Angehörigen in Berlin mit dem pflegecompass ausgezeichnet.

Haben Sie Fragen zur Pflege von demenziell erkrankten Personen in Ihrem Umfeld? Unsere Kolleg*innen in der telefonischen Pflegeberatung helfen Ihnen gerne unter der kostenfreien Servicenummer 0800 – 101 88 00 weiter. Außerdem können Sie sich auf www.pflegeberatung.de/demenz ausführlich zu allen angesprochenen Themen informieren.