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(K)ein schlechtes Gewissen bei Pflege auf Distanz

Viele Angehörige von Pflegebedürftigen können sich nicht vor Ort um die Pflege kümmern. Doch auch auf Distanz leisten sie viel in der Pflege.

Für viele erwachsene Kinder von älteren Eltern oder anderen Angehörigen in Deutschland gehört die Tatsache zum Pflegealltag, sich nicht täglich vor Ort um die Betreuung und Unterstützung ihrer pflegebedürftigen Familienmitglieder kümmern zu können. Sozioökonomische Bedingungen, ein in der Ferne absolviertes Studium, eine Ausbildung, das tolle Jobangebot, eine Beziehung, Heirat oder diverse andere Gründe führen dazu, den Wohnort zu wechseln und sich plötzlich weit entfernt von Eltern oder engen Angehörigen zu befinden. Diese Ortswechsel sind in der Regel geplant, erwünscht oder unabdinglich. Aber wie geht man in diesem Fall mit einer Pflegebedürftigkeit in der Familie um? Was tun, wenn die Eltern plötzlich hilfs- und pflegebedürftig sind und wenn Geschwister oder Angehörige vor Ort nicht helfen können oder gänzlich fehlen?

Wie viele erwachsene Kinder in Deutschland räumlich distanziert zu ihren Eltern leben, wie viele Menschen von Angehörigen aus der Ferne mitversorgt werden und wie viele Kilometer Mindestabstand dafür definitorisch zulässig erscheinen, ist schwer zu sagen. Es lässt sich aber eine steigende Tendenz vermuten. Die Wissenschaft geht von rund einem Viertel aller pflegenden Angehörigen aus, auf die diese Beschreibung zutrifft und die regelmäßige Pflegeversorgung und Unterstützung aus spürbarer Distanz gewährleisten. Verantwortungsübernahme, die sich auch in Zeit bemessen lässt. Tatsache ist, dass in Deutschland eine wachsende Zahl von Menschen, trotz räumlicher Distanz, eine regelmäßige Verantwortung im Pflegealltag übernimmt und für ihre pflegebedürftigen Angehörigen Sorge trägt. Diese, wissenschaftlich ‚Distance Caregiver‘ - Genannten, benötigen vor allen Dingen individuelle Unterstützung und passgenaue Hilfsangebote, flexible Strukturen und funktionierende Netzwerke, um die sich ihnen stellenden Probleme bei der Versorgung ihrer Angehörigen aus der Distanz bewältigen zu können.

Distance Caregiver in Wissenschaft und Praxis

Prof. Dr. Annette Franke, Professorin für Gesundheitswissenschaften, Soziale Gerontologie und Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg, forscht und lehrt dazu und ordnet das Thema und die Begrifflichkeit ein: „Es geht beim ‚Distance Caregiving‘ nicht nur um die tatsächliche Pflegetätigkeit, sondern im weitesten Sinne um Unterstützungsleistungen. Daher benutzen wir in diesem Kontext das englische Wort ‚Care‘, das im angloamerikanischen Raum den Begriff der Pflege- und Unterstützung weiter fasst, als wir das vielleicht im deutschen, sozialrechtlichen Rahmen verstehen würden. Wir haben natürlich ein enges Bild davon, wie Pflege funktioniert und auch auszusehen hat. Das orientiert sich auch an eben jenen sozialrechtlichen Fragen, zum Beispiel daran, ob man gewisse Leistungen, wie z.B. das Pflegegeld, in Anspruch nehmen kann, wenn man nicht die vorgeschriebene Mindestpflegezeit vor Ort sein kann.

Es sei jedenfalls keine leichte Entscheidung, seinen Wohnort verändern zu müssen. Jeder Mensch sei da, wo er oder sie lebt, eingebunden und verwurzelt. In Freundes- und Kolleg*innenkreise, Netzwerke und bestehende Abhängigkeitsverhältnisse. Das gelte für die Pflegebedürftigen und die Pflegenden gleichermaßen. Daher sei es auch oft keine Lösung, im Falle der eigenen Pflegebedürftigkeit dann z.B. zu den Kindern zu ziehen. „Wir haben in unserer wissenschaftlichen Arbeit aber auch festgestellt, dass die psychosoziale Ebene, also die Mischung aus Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Schuldgefühlen, die sich dann bei Pflegenden in der Distanz oft einstellt, zu einem großen Problem und zu einem hohen Belastungsfaktor werden kann“, so Professorin Franke.

Distanz muss nicht problematisch sein

Die räumliche Distanz führe häufig dazu, dass Distance Caregiver sich nicht als das sehen würden, was sie sind, nämlich pflegende Angehörige im weitesten Sinne, obwohl sie oftmals nicht täglich waschen, physisch pflegen oder sich vor Ort kümmern würden, sondern organisatorische und administrative Aufgaben im Sinne der Gewährleistung der Pflegeversorgung aus der Entfernung übernehmen. Erst im Gespräch über ihre Aufgaben käme es dann oft zu einem wirklichen Aha-Erlebnis und der Reflexion darüber, welch vielfältige, wichtige Arbeit sie in der Pflege ihrer Angehörigen leisten. „Gleichzeitig kann die Pflege aus der Distanz nicht nur als problematisch verstanden sein müssen, sondern kann auch als Teil einer Lösung begriffen werden. Wer sich als Distance Caregiver kümmert, kann sowohl einen räumlichen Abstand, aber möglicherweise auch einen gewissen emotionalen Abstand im Pflegealltag wahren, was dazu führen kann, sehr problemorientiert und effizient Sorge für Aufgaben tragen zu müssen. Alleine schon deswegen, weil es gar nicht anders geht, oder auch, weil familiäre Beziehungen nicht immer problem- und reibungslos funktionieren“, so Annette Franke.

Schuldgefühle und Hilflosigkeit sind bei Distance Caregivern trotzdem häufig stark ausgeprägt. Sie machen sich Vorwürfe, nicht genügend Aufgaben zu übernehmen oder die Verantwortung permanent auf andere abzuwälzen oder auch durch Distanz kein persönliches Verhältnis zu ambulantem oder stationären Pflegepersonal aufbauen zu können. Dagegen helfe allerdings, was unter dem Begriff ‚Empowerment‘ verstanden wird: die Selbstbefähigung sich in seiner Rolle als pflegender Angehöriger zu erkennen, sich der eigenen Leistungen zu versichern und diese Rolle natürlich auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken. Auch dort gilt: Menschen mit Pflegeverantwortung bei räumlicher Trennung wahrzunehmen, sie zu bestärken und sie zu unterstützen.

Distance Caregiving in Zeiten von Corona

Eine weitere Perspektive, nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern auch der öffentlichen Betrachtung des Themas ‚Distance Caregiving’, wird zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den vielfältigen Erfahrungen, die viele Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen während der Corona-Pandemie gemacht haben, begründet sein, so Annette Franke. Die Kontaktbeschränkungen und Lockdowns der vergangenen Monate jedenfalls haben gezwungenermaßen dazu geführt, schnelle und flexible Lösungen für die Bewältigung des Pflegealltags zu finden. Digitales Beisammensein in Videochatgruppen und die Handhabung von Endgeräten wie Smartphones, Tablets und Rechnern sind zum festen Alltagsbestandteil vieler Menschen geworden, die vor der Pandemie keine Berührungspunkte damit hatten oder haben wollten.

„Bei unseren Befragungen zu unserer Ad-hoc Studie ‚Distance Caregiving in Zeiten der Corona-Pandemie' wurde uns von unseren Interviewpartner*innen berichtet, dass Viele mit den sich für alle anderen veränderten Pflegebedingungen bereits vertraut waren und sich gut arrangieren konnten. Aus der räumlichen Ferne haben Distance Caregiver schließlich schon immer organisiert“, erläutert Professorin Annette Franke aus ihren Forschungsergebnissen. Drängende Fragen zu Netzwerk- und Hilfsangeboten, Organisations- und Kommunikationsmustern für sich und seine Angehörigen klären zu müssen, ohne dabei stets physisch anwesend sein zu können, sei bereits gelernt gewesen. „Auch die Pflegebedürftigen selber haben berichtet, dass sie, abseits der emotionalen Belastung durch die Pandemie und das entstehende Gesundheitsrisiko, zumindest im organisatorischen Pflegekontext oftmals keine extremen Veränderungen während der ersten Welle der Pandemie empfunden haben.“

Die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege

Dazu werde künftig aber auch noch eine stärkere Sensibilisierung für die Probleme und Bedarfe von pflegenden Angehörigen auf Arbeitgeberseite benötigt. „Durch die Pandemie ist das Thema ‚Remote Work‘, also das mobile Arbeiten, bei vielen Arbeitgebern noch mal neu in den Fokus gerückt und davon profitieren natürlich auch die Distance Caregiver. Wie merken, dass viel angeschoben wird und es wäre zu wünschen, dass die Chancen, die sich zwangsläufig und pandemiebedingt hier ergeben haben, im positiven Sinne mitgenommen und weiterentwickelt werden könnten“, so das vorläufige Fazit von Prof. Annette Franke.

Wenn Sie Fragen haben oder Hilfe rund um die Themen Pflege und Pflegeverantwortung benötigen, empfehlen wir Ihnen, sich an einen Pflegestützpunkt oder eine unabhängige Pflegeberatung zu wenden. Die Pflegeexpert*innen unterstützen Sie und helfen Ihnen, Ihre Versorgung optimal zu gestalten.

Mehr über das Forschungsprojekt „DiCa – Distance Caregiving“

Pflege- und Hilfepotenziale über nationale Distanzen und internationale Grenzen hinweg

Website des Forschungsprojekts

Broschüre zum Thema

Ein Ratgeber für alle Angehörigen, die Pflege- und Sorgearbeit aus der Ferne übernehmen.

Broschüre öffnen (PDF, 2MB)